Gartenstraße 44

Gartenstraße 44

Margarethe Cohn
Heinz Cohn Patientenbuch Neuerkerode

Margarethe Cohn, Heinz Cohn und Hildegard Cohn

Margarethe Cohn wurde am 2. August 1905 in Burgdorf im Haus ihrer Eltern in der Gartenstraße 44 geboren. Ihre Familie lebte seit Generationen in der Stadt. Ihr Vater, Nathan Carl Cohn, Jahrgang 1876, fiel 1916 in Frankreich, „für Kaiser und Vaterland“, wie es in der Urkunde des Heeres hieß. Margarethe war von Beruf Kindergärtnerin. Aber sie fand keine Anstellung in einer Einrichtung. Vor allem, weil sie Jüdin war, aber auch weil die Arbeitslosigkeit zur Zeit der Weimarer Republik groß war. Also musste sie sich bei betuchten Familien als Kinderfräulein verdingen. In Minden, in Niedermarsberg, Berlin, Holzminden, immer wieder unterbrochen von Arbeitslosigkeit. In ihrer Berliner Zeit kam ihr Sohn Heinz am 23. Dezember 1927 zur Welt. Er war ein uneheliches Kind. Heinz war geistig behindert. Er lebte seit Juli 1931in den Neuerkeröder Anstalten bei Braunschweig. 

Anfang September 1940 erhielt die Anstaltsleitung einen Erlass des Reichsministers des Innern, demzufolge alle psychisch kranken „Volljuden“, so der Nazijargon, in eine Sammelanstalt gebracht werden sollten. Der Leiter der Neuerkeröder Anstalten zu dieser Zeit, Pastor Ludwig Beyer, stand der „völkischen Idee grundsätzlich positiv gegenüber“ (Stephan Querfurth (2008): Ausgrenzung und Vernichtung. Neuerkeröder Blätter 73, S.7). Ohne Not veranlasste er seinen Mitarbeiter, Dr. jur. Wilhelm Hille, „das Staatsministerium um Weisung darüber [zu] ersuch[en], ob Heinz Cohn mit nach Wunstorf zu „verlegen“ sei. Die Verlegungsanordnung des RMdI [Reichsministerium des Inneren] bot zu dieser Rückfrage an sich keinen Anlass. Neuerkerode war nicht dazu verpflichtet, den Halbjuden Heinz Cohn zu melden. Marquordt [vom Staatsministerium in Braunschweig] ordnete auf Hilles Anfrage hin die „Verlegung“ an.“ (J. Klieme (1997): Ausgrenzung aus der NS-Volksgemeinschaft. Die Neuerkeröder Anstalten in der Zeit des Nationalsozialismus 1933-1945, S. 199). 

Am 21. September 1940 wurde Heinz zunächst von Neuerkerode nach Wunstorf und dann am 27. September von der Landesheilanstalt Wunstorf aus in die Tötungsanstalt Brandenburg gebracht und am selben Tag ermordet. Eine Eingabe der Reichsvereinigung der Juden in Deutschland, Bezirksstelle Hannover, vom 4. November, die darauf abzielte, dass Heinz „Mischling“ sei (der Vater ist „Arier“) und deshalb nicht dem Erlass des Reichsministeriums des Inneren unterliege, sowie in Neuerkerode evangelisch erzogen sei, konnte ihn nicht mehr retten. 

Margarethe wohnte zusammen mit ihrer am 23. Juli 1930 geborenen Tochter Hildegard bei ihrer Mutter Jenny geb. Hirschhahn. Auch Hildegard war ein uneheliches Kind. Nach dem Tod der Mutter Jenny am 9. Juni 1935 zog Margarethe im September nach Hannover und arbeitete als Putzfrau, später als Arbeiterin bei der Firma Pfeiffer & Bedrich in der Kohlrauschstraße. Hilde brachte sie bei Verwandten, dem Vetter ihres Vaters, Hermann Cohn, und seiner Frau Dora Lina geb. Oschmann in Hannover unter. Nach der Reichspogromnacht musste Hilde die Bürgerschule 26 in Hannover verlassen. Zuletzt waren Margarethe und Hilde gezwungen, zusammen mit 125 anderen Menschen in den 11 Räumen des Gemeindehauses der jüdischen Gemeinde in der Lützowstraße 3, das als eines der 15 sogn. „Judenhäuser“ der Stadt diente, zu leben. Am 15. Dezember 1941 wurden sie von Ahlem aus nach Riga deportiert und kamen dort um. 

Hilde Cohn Schulausschluss

Reichsbanner

"Für Freiheit und Republik - Das Reichsbanner Schwarz-Rot-Gold im Kampf für die Demokratie 1924 bis 1933"

Reichsbanner A1 Wanderausstellung

Noch bis zum 10.September ist im Berliner Abgeordnetenhaus eine Ausstellung zur Geschichte des „Reichsbanner Schwarz-Rot-Gold“ zu sehen. Das Video zur Eröffnung finden Sie unter https://www.youtube.com/watch?v=5cBBsAd_N1M. 

Das Reichsbanner Schwarz-Rot-Gold wurde am 22. Februar 1924 in Magdeburg als überparteiliches Bündnis von der SPD, der liberalen Deutschen Demokratischen Partei und der katholischen Zentrumspartei gegründet. Mit diesem demonstrativen Schulterschluss reagierten die Demokraten auf die zahlreichen Morde sowie die links- und rechtsextremistischen Putschversuche in den Anfangsjahren der Weimarer Republik. Schnell entwickelte sich das Reichsbanner zu einer Massenorganisation mit mehr als drei Millionen Mitgliedern. 

Ab 1931 kämpften Reichsbanner, SPD, Gewerkschaften u.a. in der Eisernen Front gemeinsam gegen die Nationalsozialisten. Nach deren Machtergreifung 1933 wurde das Reichsbanner verboten. Seine Mitglieder wurden verfolgt, mussten ins Exil gehen oder wurden Teil des deutschen Widerstandes gegen den Nationalsozialismus. Neben fünf Reichskanzlern waren bekannte Mitglieder des Reichsbanners u.a. Philip Scheidemann, Otto Wels, Julius Leber, Kurt Schumacher, Fritz Bauer, Paul Löbe und Theodor Heuss.

Ein online Rundgang durch die Ausstellung ist auch gesondert verfügbar.

https://www.reichsbanner.de/fileadmin/videos/reichsbanner.mp4 

Die Bundesrepublik Deutschland als parlamentarische und demokratische Republik zu erhalten, ist nach Überzeugung des „Reichsbanners Schwarz-Rot-Gold“ eine fortwährende Aufgabe für uns alle. Die Arbeit des Reichsbanners ist seit seiner Wiedergründung im Jahr 1953 als „Reichsbanner Schwarz-Rot-Gold, Bund aktiver Demokraten e.V.“, daher von politisch-historischer Bildungs- und Erinnerungsarbeit geprägt. Der Verein kooperiert dazu mit verschiedenen öffentlichen und gemeinnützigen Institutionen, wie der Gedenkstätte Deutscher Widerstand in Berlin, der Bundeszentrale für politische Bildung oder der Friedrich-Ebert-Stiftung. 

Ob in Ausstellungen, Seminaren oder dem Besuch von Gedenkveranstaltungen – stets steht die Vermittlung staatsbürgerlicher Bildung und Werte besonders an junge Menschen im Mittelpunkt. Damit wollen sie das Bewusstsein stärken, dass Demokratie, Freiheit, Wohlstand und sozialer Friede auch heute täglich neu erstritten werden müssen.  (Quelle: https://reichsbanner.de/reichsbanner-heute/veranstaltungen/archiv/2021/wanderausstellung-in-berlin-2/ ; Ausstellungsplakat © Gedenkstätte Deutscher Widersatnd) 

Uetzer Straße 12

Uetzer Straße 12

Julius Cohn
Ruth Cohn ganz links und Gerda Eschemann mit Zoepfen hinten Gemeindehaus St.Pankratius ca. 1932

Julius Cohn, Elsa Cohn geb. Rose und Arnold Cohn

Julius Cohn, 1884 in Burgdorf geboren, stammte aus einer alten Burgdorfer Familie, die hier schon vor 1800 ansässig war. Als Viehhändler war er ein überaus beliebter, angesehener und erfolgreicher Geschäftsmann und bis 1935 Kassenführer der Viehhändler- und Schlachtervereinigung. In den Akten der Gestapo Lüneburg findet sich ein bemerkenswertes Dokument (Hann. 180 Lün. Acc. 3/030 Nr. 268). Der Leiter der Staatspolizeistelle in Harburg-Wilhelmsburg beantwortete im November 1935 ein Schreiben des Reichswirtschaftsministeriums, in dem der Verdacht geäußert worden war, jüdische Viehhändler würden überhöhte Preise zahlen, um die Fleischpreise nach oben zu treiben und so Unruhe und Unzufriedenheit in die Bevölkerung zu tragen. Das sei vermutlich ein Angriff des Judentums auf das Deutsche Reich. Im Antwortschreiben der Staatspolizei vom 26.11.1935 hieß es: „Im Allgemeinen sind die Juden im Viehhandel im hiesigen Staatspolizeibezirk nicht in Erscheinung getreten. Lediglich im Kreis Burgdorf liegt der Viehhandel zum größten Teil in den Händen des jüdischen Viehhändlers Cohn aus Burgdorf. Die Schlachtereibetriebe dieses Kreises empfinden diesen Juden als wenig angenehme Konkurrenz, da er ihnen angeblich das Vieh, auf das sie selbst handeln, wegkäuft. Ob Cohn dies, wie behauptet wird, durch höhere Preisangebote erreicht, erscheint jedoch zweifelhaft. Zum großen Teil ist es wohl darauf zurückzuführen, dass die Bauern, die seit Jahren mit dem Juden gehandelt haben und nach den Äußerungen stets gut von ihm behandelt worden sind, ihr Vieh gewohnheitsmäßig weiter an ihn absetzen.“ Im Ersten Weltkrieg war Julius Marinesoldat, in Burgdorf geachtetes Mitglied der Feuerwehr und des Schützenvereins. Auch in Friedenszeiten präsentierte er sich noch gerne in seiner Reservistenuniform.

Elsa Cohn geb. Rose mit Ruth und Inge ca. 1923

Julius und seine Frau EIsa geb. Rose hatten drei Kinder. Ruth nahm sich 1937 mit 19 Jahren das Leben. Die näheren Umstände ihres Suizids sind nicht bekannt, aber vermutlich steht er im Zusammenhang mit der Verfolgung jüdischer Menschen im Nationalsozialismus, und ihr Name wurde in das „Gedenkbuch für die Opfer der Verfolgung der Juden unter der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft in Deutschland 1933–1945“ aufgenommen. Inge, Jahrgang 1921, konnte 1939 nach London emigrieren und ist dort im Mai 1942 nach einem epileptischen Anfall in der Badewanne ertrunken. Arnold, 1924 als jüngstes Kind geboren, war Sportler, leidenschaftlicher Fußballer. Er konnte nicht begreifen, dass er plötzlich nicht mehr in der Mannschaft mitspielen durfte. Arnold wollte dazugehören. Er wollte Mitglied der Hitlerjugend werden. Altersgenossen erzählten, dass der Lehrer Otto von Hinüber ihm zu erklären versuchte, warum das nicht ginge. Ohne Erfolg. Wenn Arnold von seiner Lehrstelle als Tapezierer in Hannover vom Bahnhof her über den Kirchplatz zur Uetzer Straße nach Hause wollte, musste er buchstäblich Spießrutenlaufen. Er wurde durch die Reihen der Hitlerjugend getrieben und jeder versuchte, ihm in den Hintern zu treten. Arnold wurde zusammen mit den Eltern am 6. Dezember 1941 von Hamburg aus nach Riga deportiert. Nachbarn aus der Uetzer Straße haben berichtet, dass Elsa Cohn schrecklich geschrien habe, als die Familie vier Tage vorher abgeholt wurde. Julius und Elsa wurden in Riga ermordet, vermutlich Anfang 1942. Arnold wurde möglicherweise später noch von Burgdorfern, die als Soldaten an der Ostfront waren, bei der Zwangsarbeit gesehen. Einige berichteten, dass sie Zeugen wurden, wie Arnold von einem SS-Wachmann erschossen wurde, als er sie erkannte und auf sie zugehen wollte.

Julius Cohn Kennkarte
Elsa Cohn geb. Rose Kennkarte
Arnold Cohn Kennkarte

Stolpersteine

Stolpersteine

Putzen: Im Juni sind wir mit fünf Schüler*innen-Gruppen der RBG durch Burgdorf gegangen und haben die Stolpersteine geputzt. Das Ergebnis kann sich sehen lassen! Vielen Dank an die Schüler und Schülerinnen und ihre Lehrerin Frau Koopmann!

Besuchen: Im Juli setzen wir die Führungen mit sechs Gruppen von Schülerinnen und Schülern des Gymnasiums fort. Wir freuen uns darauf und danken Herrn Rode für diese Zusammenarbeit!

Neu Verlegen: Am 12. November um 11:00 werden wir neue Stolpersteine in der Gartenstraße 44 und in der Wallgartenstraße 38 verlegen. Bitte halten Sie sich das Datum frei! Wir werden sie laufend weiter über die Planungen einschließlich der Begleitveranstaltungen informieren. Wenn Sie die Verlegung unterstützen wollen, finden Sie unser Spendenkonto hier:

Spendenkonto

Kontoinhaber: Kirchenkreisamt Burgdorfer Land

Kreditinstitut: Stadtsparkasse Burgdorf

IBAN: DE71 2515 1371 0000 0072 52

BIC: NOLADE21BUF

Bitte unbedingt als Stichwort „Gedenkweg 9.November“ angeben

„Freitagnacht Jews“ – Schabbat mit Daniel Donskoy

"Freitagnacht Jews"
Schabbat mit Daniel Donskoy

Nach dem April newsblog erreichte mich folgender Tipp aus dem Leser*innenkreis, den ich gerne an Sie und Euch weitergeben möchte:

„Freitagnacht Jews“ – Schabbat mit Daniel Donskoy

Die YouTube- und Mediathek-Reihe „Freitagnacht Jews“ erzählt nach Senderangaben in acht Folgen über junges jüdisches Leben in Deutschland. Host ist der Schauspieler und Musiker Daniel Donskoy. Es geht um gutes Essen und gute Gespräche und am Ende vor allem darum: Verständnis füreinander zu entwickeln. Ab 18. Juni auch im WDR Fernsehen, freitags 23.30 Uhr.

Und jetzt schon, auch die bisher aufgezeichneten Folgen, unter:

https://www1.wdr.de/kultur/freitagnachtjews/freitagnacht-jews-uebersicht-100.html

Poststraße 1

Poststraße 1

Geschäft Moosberg

Emilie Neuhaus geb. Moosberg und Clara Palmbaum geb. Moosberg

Sally Levy Moosberg aus Bückeburg erwarb 1858 das Haus Poststraße 1 von Getreidehändler Heinrich Natje und eröffnete ein Manufakturwarengeschäft. Ein Jahr später heiratete er Friederike, genannt Riekchen, Salberg aus Brakel bei Paderborn. Die Eheleute hatten vier Kinder: Louis, Emilie, Clara (Klara) und Moritz.

Die Tochter Emilie wurde am 5. Februar 1863 in Burgdorf geboren. Im Jahr 1892 heiratete sie in Burgdorf den Kaufmann Michael (Moritz) Neuhaus aus Herleshausen. Moritz Neuhaus war viele Jahre Gemeindeältester der jüdischen Gemeinde Herleshausen und leitete dort die Getreide-, Futter- und Düngemittelfirma seines Vaters Jakob. Als Emilie zusammen mit ihrem Mann am 7. September 1942 nach Theresienstadt deportiert wurde, war sie fast 80 Jahre alt, ihr Mann 82 Jahre. Bereits am 11. Oktober 1942 ist Emilie dort ums Leben gekommen. Ihr Mann war zwei Tage vorher ermordet worden. Ihr Sohn Julius (geb. 1893) nahm als Kriegsfreiwilliger am Ersten Weltkrieg teil. Nach dem Krieg heiratete er eine Osnabrücker Katholikin, Wilhelmine Weber, mit der er eine Tochter, Annemarie, hatte. Dank dieser sog. „privilegierten Mischehe“ wurde er nicht zusammen mit den Eltern deportiert

Moritz Neuhaus ca. 1888
Emilie Neuhaus geb. Moosberg ca. 1888

Louis Moosberg, Emilies Bruder, war das älteste Kind von Sally und Riekchen Moosberg. Er wurde 1860 in Burgdorf geboren. Ab 1894 führte er das Textilgeschäft des Vaters selbständig. Er war verheiratet mit Alma Meyerstein aus Hannover. Das Ehepaar hatte drei Kinder. Fritz, Jurastudent, Vizefeldwebel und Träger des EK II, fiel 1916 in Frankreich. Änne, die jüngste Tochter, konnte Anfang 1939 nach London emigrieren. Clara, geboren am 8. August 1896 in Burgdorf, heiratete im Juni 1921 in Burgdorf den Kaufmann Julius Palmbaum, der in Hildesheim eine Fell- und Darm-Großhandlung betrieb.

Moosberg Fritz Clara und Änne
Dachboden des ehem. Hauses Sannemann Fritz-Clara-Änne Moosberg Menge verarbeiteter Bettfedern 20 Sep. 1904
Fritz Moosberg Grabstein jüd. Friedhof Uetzer Str.
Hinten Clara geb. Moosberg und Juliurs Palmbaum Vorne Fritz Großeltern Julie und Phillip Palmbaum Kurt ca. 1927
Hinten Änne Moosberg Clara Moosberg Minna Ziesenis Berta Worthmann Unten-Martha Meyer-Ziesenis Kurt Meyer Tochter von Berta Worthmann Hans-Otto Klauke Martha Klauke 1925

Das Ehepaar Palmbaum wurde zusammen mit dem 1924 geborenen Sohn Kurt am 1. April 1942 nach Warschau deportiert. Die letzte Nachricht ist eine Rot-Kreuz-Karte, die Anfang 1943 geschrieben wurde. Als im April und Mai 1943 der Aufstand des jüdischen Widerstandes im Warschauer Ghetto von der SS blutig niedergeschlagen wurde, sind alle drei ums Leben gekommen.

Ihr älterer Sohn Fritz, geboren 1922, musste 1938 die Oberrealschule Hildesheim verlassen. Als 16-Jähriger wanderte er mit einem Einreisevisum des Reichsbund jüdischer Frontkämpfer, von denen 200 an Söhne von Mitgliedern vergeben wurden, allein nach Australien aus. In Australien wurde aus Fritz Palmbaum Fred Palmer.

Das Manufakturwarengeschäft (Herren- und Damenstoffe; Federbetten) Moosberg bestand aus dem Ladengeschäft in Burgdorf, aber auch aus einem Reisegeschäft mit mehreren reisenden Angestellten. Moosberg versorgte die Mitglieder des Schützenvereins mit den neuesten Uniformmodellen „und in erstklassiger Qualität“ wie es in mehreren Annoncen hieß. Vor allem aber verkaufte er auf den Bauernhöfen im Umland die Wäscheaussteuer für die Töchter. Die Familie konnte das gut angesehene Geschäft bis Ende Juli 1935 halten. Schon ab 1934 war es NSDAP-Mitgliedern verboten, bei Moosbergs zu kaufen. Da die Partei gegenüber im damaligen Gasthaus Wiesener ihre Zentrale hatte, standen Kunden unter ständiger Beobachtung und wurden mit antisemitischen Zurufen bedroht. Irgendwann blieben selbst die treuesten Kunden aus und das Geschäft, das drei Generationen lang von den Moosbergs betrieben worden war, wurde Anfang 1936 an Friedrich Fehling verpachtet. Fehling zog dann am 1. September 1937 in ein anderes „arisiertes“ Geschäft (Schuhgeschäft Jacobsohn) in der Marktstraße 56 um.

Ännes Eltern Louis und Alma waren bereits im April 1937 nach Hannover gezogen. Nachdem das Haus einige Zeit leer gestanden hatte, musste Änne Haus und Grundstück im November 1937 an Carl Sannemann verkaufen. Alma starb im Dezember 1941 und Louis im März 1942 im Altersheim des Israelitischen Krankenhauses in der Ellernstraße in Hannover.

Änne (geb. 1899) heiratete 1944 in London Max Heimann [1], der jedoch schon nach zweijähriger Ehe starb. Während die Familie Moosberg in Burgdorf selbst Hausangestellte hatte, musste sich Änne im Exil nun ihrerseits als Hausmädchen verdingen, was sie nicht ohne Bitterkeit in ihrem Wiedergutmachungsantrag bemerkte.

[1] Die Ehemänner von Änne Moosberg und ihrer Tante Clara heißen zufälligerweise beide Max Heimann

Clara, geboren 1865 in Burgdorf, die Tante von Änne verheiratete Heimann und von Clara verheiratete Palmbaum, begleitete ihren inzwischen verwitweten Vater Sally Moosberg 1895, als dieser nach Bückeburg verzog. In Lüdge heiratete sie Max Heimann, mit dem sie zwei Töchter hatte: Käthe (geb. 1899), die nach Palästina auswanderte, und Friederike (genannt Frieda, geb. 1898). Friederike heiratete später Gustav Italiener und kam mit ihm und den beiden Söhnen in Auschwitz um (s. Poststraße 2). Clara selbst starb im November 1938 (oder 1940?) in einem Altersheim in Hannover.

Moritz, das jüngste Kind von Sally und Riekchen, wurde 1868 in Burgdorf geboren und heiratete Ella Blank aus Witten. Moritz Moosberg lebte als Kaufmann im Ruhrgebiet und starb 1937. Sein Sohn Kurt (geb. 1903) war glühender Zionist und verkehrte 1926 bis 1928 in Hannover in dadaistischen Zirkeln um Kurt Schwitters. Er wanderte früh (1929) nach Palästina aus. Mit seiner Frau Rita geb. Levis zog er dort drei Töchter groß: Yael, Yehudit und Raya. 2018 besuchten Yael und Yehudit mit anderen Familienmitgliedern Burgdorf.

Clara Heimann geb. Moosberg Max Heimann ca. 1930
Vorne: Ruth Fricke-Weinel Yael Shechter Ehemann Mordechai Shechter Schwester Yehudit Biller geb. Shechter Mitte: Tochter Shybboleth Shechter Hinten: Olaf Weinel Brigitte Janssen 2018

#2021JLID – Podcast

#2021JLID – Podcast

Seit Januar 2021 sprechen die Journalist*innen Mirna Funk, Shelly Kupferberg und Miron Tenenberg wöchentlich im Wechsel mit spannenden Gästen über das Thema jüdisches Leben in Deutschland. Sie machen die Diversität jüdischen Lebens in Gesellschaft, Kultur, Gemeinden und überhaupt in Deutschland hörbar!

Die einzelnen Folgen sind unter

https://2021jlid.de/podcast/

nachzuhören. Oder direkt bei Spotify bzw. Deezer unter #2021JLID

Shared History – virtuelle Ausstellung des Leo Baeck Instituts (LBI)

Shared History – virtuelle Ausstellung des Leo Baeck Instituts (LBI)

Das Shared History (geteilte Geschichte) Projekt des Leo Beck Institutes New York / Berlin erzählt anhand von 58 Objekten die Geschichten von Jüdinnen und Juden in Mitteleuropa und zeigt die enge Verflechtung jüdischer Geschichte mit den Menschen, Regionen und Ländern dieses Raums. Im Verlaufe des Jahres 2021 wird jede Woche ein neues Objekt mit begleitenden Texten von führenden Gelehrten in einer virtuellen Ausstellung enthüllen.

Von den frühesten Nachweisen jüdischer Präsenz in den römischen Provinzen des Rheinlands bis zum Deutschland und Österreich der Gegenwart erzählt das Projekt die Geschichte der komplexen Koexistenz von jüdischem und nichtjüdischem Leben im deutschsprachigen Raum der letzten 1700 Jahre. Das Shared History Project vermittelt damit wichtige Botschaften über Migration, Akzeptanz, Inklusion, Akkulturation, Vorurteile und Ausgrenzung, Verfolgung, Erfolg und Widerstandsfähigkeit, um mit Hilfe historischer Fakten und der Verbreitung von Wissen einen wichtigen Beitrag gegen Ignoranz, zunehmende Geschichtsvergessenheit und -verzerrung und wachsenden Antisemitismus zu leisten. (Quelle: Internetseite des LBI)

Die Exponate und Beiträge sind unter

https://sharedhistoryproject.org/

zu erreichen.

Festschrift für Leo Baeck mit einem Beitrag von Bruno Italiener 1953

Marktstraße 48

Marktstraße 48

Clara Aselmann Johanne Simon Rudolf Aselmann 1949
Meldekarte Johanne Simon Hannoversche Neustadt 4
SA und NSDAP marschieren durch die Marktstraße 1933

Familie Simon

Julie Simon wurde am 8. Januar 1869 in Lohne geboren. Seit April 1880 lebte sie mit den Eltern, Samuel-Andreas Simon und Jette geb. Silbermann, und vier Geschwistern in Burgdorf. Ihr Vater stammte aus Burgdorf. Zusammen mit ihren Schwestern Sophie (geb. 1866) und Johanne (geb. 1877) betrieb sie eine „Weißschneiderei und Putzmacherei“ in der Marktstraße 48. Ungezählte Kleider und Hüte stellten die drei her oder veränderten sie und trugen so zur Verschönerung der Burgdorfer Damenwelt bei. Sophie bot außerdem Nähkurse für junge Mädchen aus Burgdorf und Umgebung an.

Am 1. April 1933 standen SA-Männer vor den jüdischen Geschäften in der Marktstraße. Sie trugen Schilder „Kauft nicht bei Juden“ und „Die Juden sind unser Unglück“. Schon vor 1933 und erst recht danach marschierten Abteilungen der SA und der Hitlerjugend durch die Marktstraße und sangen unter anderem „Wenn das Judenblut vom Messer spritzt, ja dann geht es uns noch mal so gut“. Eine ganze Reihe derer, die dort marschierten, hatten Frauen, Schwestern oder Mütter, die bei den Schwestern Simon das Nähen gelernt und viele Jahre lang Nähzeug gekauft oder Hüte erstanden hatten. Die Einkünfte der Simon-Schwestern gingen durch den Boykott jüdischer Geschäfte dramatisch zurück. Im Dezember 1937 wurde ihnen der Mietvertrag für den Laden gekündigt. Sie lebten von einer kleinen Invalidenrente, die Johanne auf Grund einer Körperbehinderung bezog. Sie war als Kind gestürzt und hatte keine angemessene medizinische Versorgung bekommen. Davon hatte sie ein Hüftleiden zurückbehalten.

Sophie starb 1940 noch in Burgdorf. Am 1. April 1943 wurde Julie zusammen mit ihrer Schwester Johanne nach Hamburg ins Stadthaus, der Zentrale der Hamburger Gestapo verschleppt. Auf Johannes Meldekarte wurde dies euphemistisch als „evakuiert nach Hamburg“ vermerkt. Johanne und Julies Nichte Clara Aselmann geb. Simons berichtete, dass Polizist Meyer Johanne ins Gesicht geschlagen habe, als er sie zur Deportation abholte. Die Wohnung in der Hannoverschen Neustadt 4 war bereits geplündert, als das Finanzamt einige Tage später den Besitz der Schwestern zu Gunsten des Deutschen Reichs verkaufen wollte. Vermutlich über das Gefängnis Hamburg Fuhlsbüttel wurden beide am 5. Mai 1943 nach Theresienstadt deportiert. Dort starb Julie am 28. Juli 1944 an Entkräftung, zwei Tage bevor sie hätte nach Auschwitz transportiert werden sollen.

Julies Schwester Johanne wurde von der Transportliste nach Auschwitz wieder gestrichen, weil der Koch für die SS-Wachmannschaften sie als tüchtige Kartoffelschälerin nicht missen wollte. Sie hat überlebt und den Tod ihrer Schwester Julie bezeugen können. Am 3. August 1945 ist sie laut Meldekarte wieder nach Burgdorf „zugezogen vom Konzentrationslager Theresienstadt“.

Louisenstraße 4

Louisenstraße 4

Meyer Löwenstein und Ida geb. Blumenthal auf dem Spittaplatz

Meyer Löwenstein und dessen Frau Ida geb. Blumenthal

Meyer Löwenstein wurde am 29. Oktober 1866 im hessischen Fronhausen geboren. Im Juli des Jahres 1886 kam er als Lehrer der Synagogengemeinde nach Burgdorf. Seine gesamte Berufszeit als Lehrer, Vorbeter und Schächter der Gemeinde wirkte er in Burgdorf. Diese Ämterkopplung war damals gängige Praxis, denn das Gehalt eines jüdischen Elementarlehrers auf dem Land war eher kümmerlich und deutlich geringer als das seiner christlichen Kollegen.

In Burgdorf heiratete Meyer Löwenstein Ida BlumenthaI, die Tochter seines Vorvorgängers. Seine Geradlinigkeit und Güte brachten ihm die Achtung innerhalb und außerhalb der kleinen jüdischen Gemeinschaft Burgdorfs ein. Pastor Brandes, Pfarrer an St. Pankratius, und Meyer Löwenstein, der jüdische Lehrer, liebten es z.B., an der Aue spazieren zu gehen und sich über Gott und die Welt zu unterhalten. Meyer Löwenstein war auch mit Schwester Anna, der Leiterin des Armenhauses, befreundet, brachte ihr Matzen und reparierte die elektrische Leitung. Und auch mit den christlichen Fleischern gab es nun nach früheren Beschwerden ein kollegiales Abkommen. „Rabbi“ Meyer Löwenstein, der zugleich als Schächter wirkte, ging turnusmäßig reihum zu allen jüdischen und allen christlichen Metzgern und tötete Tiere auf die Juden vorgeschriebene Weise, damit alle Fleischer regelmäßig koscheres (rituell reines) Fleisch für die jüdischen Familien anbieten konnten. An den jüdischen Feiertagen leitete er den Gottesdienst in der kleinen Synagoge in der Poststraße, zu dem auch Gemeindemitglieder aus Lehrte, Burgwedel und Isernhagen kamen. Schon zu Zeiten der Weimarer Republik wurde der Gottesdienst manchmal von johlenden, rechtsgerichteten Gruppen gestört. Nachdem sich der Elementarunterricht in Rechnen, Lesen und Schreiben mehr und mehr an die staatliche Schule verlagert hatte, erhielten die jüdischen Kinder bei Meyer Löwenstein nur noch Hebräisch- und Religionsunterricht.

1934 zog das Ehepaar Löwenstein nach Hannover, um in der Großstadt unterzutauchen. Am 23. Juli 1942 wurden beide von ihrem letzten Wohnort aus, dem Judenhaus in der Ellernstraße 16 (ehem. Israelitisches Krankenhaus), nach Theresienstadt deportiert. Meyer Löwenstein fand dort am 11. Mai 1943 den Tod. Ida Löwenstein überlebte. Fast drei Jahre nach ihrer Befreiung konnte sie endlich nach Palästina zu ihren Söhnen Paul und Ernst Pinchas ausreisen. Ende 1949 kehrte sie nach Deutschland zurück, wohnte u.a. noch einmal für kurze Zeit in Hannover-Waldhausen, bevor sie am 29. November 1950 in Essen-Werden starb.

Während Meyer und Ida Löwensteins Sohn Paul (geb. 1891) und ihr Adoptivsohn Ernst Pinchas Blumenthal (geb. 10. Oktober 1912) 1939 bzw. 1935 über England nach Palästina emigrieren konnten, verpasste die Tochter Johanna Margarete Sara die Chance zur Auswanderung mit ihrem Mann Arthur Kaufmann. Margarete, genannt Grete, wurde am 28. Januar 1896 in Burgdorf geboren. Von 1915 bis 1933 arbeitete sie als Bankbeamtin bei der Dresdner Bank in Hannover, danach bei der Zentralen Wohlfahrtspflege der jüdischen Gemeinde. 1939 heiratete Margarete den Rechtsanwalt Dr. Arthur Kaufmann. Er hatte nach Shanghai auswandern wollen und kannte die offenkundigen Gefährdungen. Arthur Kaufmann wurde bereits im November 1938 kurzzeitig im Konzentrationslager Buchenwald als sogenannter „Aktionsjude“ inhaftiert. Trotzdem wurde jetzt erst einmal ein neuer Hausstand in der Gneisstraße 5 in Hannover gegründet. Als das Ehepaar 1940 schließlich nach Brasilien emigrieren wollte, war es zu spät. Die Kaufmanns waren nach dem Berufsverbot für jüdische Anwälte gezwungen, ihre Wohnung in der Hannoverschen Südstadt aufzugeben, und zogen im April 1939 in eine Wohnung der jüdischen Gemeinde in der Ohestraße 8. In den Gebäuden des dortigen Gemeindezentrums wurde bis zum 3. September 1941 eines der 15 „Judenhäuser“ eingerichtet, in die alle 1.200 hannoverschen Juden innerhalb von 24 Stunden einziehen mussten. Für die Kaufmanns dauerte das Elend des beengten Lebens in diesen Judenhäusern nur kurz. Bereits am 15. Dezember 1941 wurden beide von Ahlem aus zusammen mit 999 anderen Hannoveraner Juden und Jüdinnen nach Riga deportiert. Das Ehepaar Kaufmann war dabei gezwungen, als Angestellte der jüdischen Gemeinde die Deportationslisten für die Gestapo (Geheime Staatspolizei) selbst zusammen zu stellen und für die Vermögenserklärungen der Gelisteten zu sorgen. In Riga kamen beide ums Leben. Wann wissen wir nicht. Ida Löwenstein, Margaretes Mutter, schrieb noch im August 1946 von ihrer Hoffnung, dass Grete und ihr Mann aus Riga zurückkehren mögen: „Denn wenn sie ins Innere von Russland gekommen sind, kommen sie nicht so schnell heraus, wie hier ein Herr, der zurückkam, erzählte“. 

Meyer Löwenstein und Ida geb. Blumenthal
Margarete Kaufmann geb. Löwenstein 1932 vor dem Amtsgericht Burgdorf