Stadtrundrang zu den Stolpersteinen

Stadtrundrang zu den Stolpersteinen

Dank des Engagements der Lehrkräfte konnten wir auch in diesem Jahr wieder mit insgesamt 10 Kleingruppen aus Schüler:innen der 10. Klassen des Gymnasium Burgdorfs einen Rundgang zu wichtigen Stationen des Erinnerns an jüdisches Leben in der Innenstadt Burgdorfs machen. Neben den Stolpersteinen, die an die im Nationalsozialismus verfolgten und ermordeten Burgdorfer:innen „mosaischer Religionszugehörigkeit“ erinnern, sind die ehemalige Synagoge und heutige KulturWerkStadt sowie das Kriegerdenkmal am Portal der St. Pankratius-Kirche wichtige Stationen.

„Man muss nicht weit von zu Hause weggehen, um etwas über diese Geschichte zu erfahren […]. Wenn man in seiner eigenen Stadt anfängt, hat man einen tieferen Bezug zu seiner eigenen Biografie, als wenn man zur Gedenkstätte Auschwitz geht. Es ist wichtig zu wissen, was in Auschwitz passiert ist, aber diese Menschen haben vorher hier gelebt.“ (Stephan Conrad, AG Geschichte, Treibhaus e.V. Döbeln; Obermayer Preisträger 2022) – Das gilt für Döbeln, Burgdorf und all die anderen Städte, wo an jüdisches Leben erinnert wird, und Stolpersteine liegen.

13.6.22 Zwei Gruppen von Gymnasiast:innen, vor der ehemaligen Synagoge, heute KulturWerkStadt, und in der Poststraße 1 vor dem ehemaligen Bekleidungsgeschäft von Louis Moosberg, heute ein Optiker.

Anne-Frank-Tag am 13. Juni 2022 an der Rudolf-Bembenneck-Gesamtschule

Anne-Frank-Tag am 13. Juni 2022 an der Rudolf-Bembenneck-Gesamtschule

Die Rudolf-Bembenneck-Gesamtschule hat sich auch in diesem Jahr wieder am Anne-Frank-Tag beteiligt. Das Anne-Frank-Zentrum ruft alljährlich im Umfeld zu Anne Franks Geburtstag am 12. Juni Schulen dazu auf, sich mit Anne Frank und der Verfolgung der Juden und Jüdinnen im Nationalsozialismus zu befassen. Lehrkräfte, Schüler*innen und die breite Öffentlichkeit sollen dadurch für Antisemitismus und Rassismus sensibilisiert werden.

In diesem Jahr stand der Tag unter dem Motto „Freundschaft“. Die Burgdorfer Schüler:innen der 10. Klassen erhielten dazu einen Impuls aus der Lokalgeschichte. Judith Rohde vom Arbeitskreis Gedenkweg 9. November stellte ihnen die Geschichte zweier Freunde mit Bezug zu Burgdorf vor, Fritz Palmbaum (auf dem Bild vorne Mitte) und Günther Stern (hinten rechts), die beide in Hildesheim zur Schule gingen. 

Fritz Palmbaums Mutter, Clara, stammte aus Burgdorf. Sie war eine geborene Moosberg. Ihre Eltern, Louis und Alma Moosberg betrieben hier ein sehr gut laufendes Textilgeschäft in der Poststraße 1, wo jetzt ein Optiker eine Filiale hat. Das Bild zeigt die Familie ca. 1913 vor ihrem Laden. Auf der Treppe ganz links Clara (geb. 1896), vor ihr ihre jüngere Schwester Änne (geb. 1899). Aus dem Fenster lehnt die Mutter Alma, davor stehen Vater Louis und der Bruder Fritz (1895), der im WKI (1916) in Frankreich „für Kaiser und Vaterland“ gefallen ist. Vermutlich ist Fritz Palmbaum nach seinem gefallenen Onkel benannt. Er war sicher oft bei den Großeltern in Burgdorf zu Besuch.

Fritz und seine Freund Günther sind beide dem nationalsozialistischen Terror entkommen. Ohne ihre Familien konnten sie 16jährig allein nach Australien bzw. in die U.S.A emigrieren. Die Familien der beiden Freunde wurden von den Nationalsozialisten ermordet.

Fritz Palmbaums Biographie war für die Schüler:innen Ausgangspunkt sich anschließend in einem Schreibprojekt in fiktiven Briefen aus der Emigration nach Hause bzw. von den Zurückgebliebenen an den Sohn im Ausland mit den Themen Verfolgung und Flucht auseinanderzusetzen.

Fritz Palmbaum vorne Mitte und Günther Stern hinten rechts ca. 1935 klein
Poststraße 1 Geschäft Moosberg vli Clara Aenne zwei Hausangestellte im Fenster Alma davor Louis und Fritz ca.1911

Vortragsreihe zur Geschichte der Weimarer Republik am Beispiel der Region Hannover in der Paulus-Feierabend-Akademie

Vortragsreihe zur Geschichte der Weimarer Republik am Beispiel der Region Hannover in der Paulus-Feierabend-Akademie

mit Dr. Peter Schulze, Hannover

Paulus-Zentrum Burgdorf, Berliner Ring 17, jeweils von 19.00 Uhr bis ca. 21.15 Uhr statt. Der Eintritt ist frei.

15. Juni 2022

Das Trauma des verlorenen Weltkriegs. Deutschnationaler Totenkult als antidemokratische Mobilisierung 

Nach 1918 gibt es keinen gesellschaftlichen Konsens über die Erinnerung an die Kriegstoten. Die republikanische Linke wehrt sich gegen die ‚Dolchstoßlegende‘, führt aber keine Auseinandersetzung um die Kriegsursachen. Die öffentliche Weltkriegserinnerung bleibt der politischen Rechten überlassen. Ihre Aufmärsche und Appelle sind Teil der Mobilisierung gegen die Weimarer Demokratie.

6. Juli 2022

Antisemitismus in Hannover: Judenfeindschaft als völkische Gesellschaftskritik

Der Antisemitismus in den 1920er Jahren ist Ausdruck einer völkischen Fundamentalopposition gegen die Weimarer Republik und den gesellschaftlichen Wandel. Die aufsteigende völkische, später die nationalsozialistische Bewegung, verbreiten die Parole „Die Juden sind an allem schuld!“

Schwarz-Rot-Gold oder Schwarz-Weiß-Rot? Ausschnitt eines Wahlplakats der Deutschnationalen 1924. © Deutsches Historisches Museum

Verbrechen im Nationalsozialismus: Das Kainsmal oder Wie wird Schuld produktiv?

Prof. Dr. Katharina von Kellenbach

Verbrechen im Nationalsozialismus: Das Kainsmal oder Wie wird Schuld produktiv?

Prof. Dr. Katharina von Kellenbach

Vortrag 6. Mai 2022 19:00 in St. Paulus (Burgdorf)

Das Kainsmal wird oft fälschlich als Stigma oder Zeichen der Beschämung verstanden. Aber in der Kainsgeschichte steckt ein radikal neuer Zugang zur Schuld: keine Bürde oder Last, die durch Vergebung erleichtert und abgenommen werden muss; auch kein Schandfleck, der gereinigt und weggewaschen werden muss. Kain darf weiterleben, wird Vater und baut eine Stadt, weil seine Schuld offen und transparent bleibt. Was bedeutet die Kainsgeschichte für den produktiven Umgang mit der deutschen Schuld für die nationalsozialistischen Verbrechen? Im Mittelpunkt stehen die Äußerungen von Kriegsverbrechern, ihre kirchlich-seelsorgerische Betreuung in den Gefängnissen und der Umgang der Kirchen mit Schuld im Nachkriegsdeutschland.  

Dr. Katharina von Kellenbach ist Projektkoordinatorin von Bildstörungen an der Evangelischen Akademie zu Berlin, um antisemitismuskritische Bibelauslegungen und Religionslehre zu fördern. Sie ist Professor Emerita für Religious Studies am St. Mary’s College of Maryland und leitete 2018-2020 die ZiF-Forschungsgruppe Felix Culpa: Zur kulturellen Produktivität der Schuld in Bielefeld. Buchveröffentlichungen: Guilt: A Force of Cultural Transformation (2021), The Mark of Cain: Guilt and Denial in the Lives of Nazi Perpetrators (2013), und AntiJudaism in Feminist Religious Writings (1994). 

Dr. Katharina von Kellenbachs Vortrag findet am 6. Mai 22 um 19:00 im St. Paulus-Kirchen-Zentrum in Burgdorf unter den dann geltenden Coronaregeln statt. 

Lesen! Eva Menasse: Dunkelblum

Lesen! Eva Manesse: Dunkelblum

Verlag: Kiepenheuer&Witsch

528 Seiten, 25 €

ISBN: 978-3-462-04790-5

Auch als e-book und bei Audible, 

eingelesen von der Autorin selbst

Das ist ein Buch, das man zwei Mal lesen muss. 1. Weil es gut geschrieben ist – große Sprachoper, nennt Denis Scheck es im „lesenswert“-Quartett des SWR. 2. Weil es eine spannend entwickelte Analyse eines nationalsozialistischen Täterkollektives ist. 3. Weil man beim ersten Lesen den Überblick verliert – und das ist vermutlich gewollt. Doch der Reihe nach.

In ihrem aktuellen Roman beschreibt Eva Menasse den Mikrokosmos einer österreichischen Kleinstadt im Burgenland an der Grenze zu Ungarn zur Zeit des Falls des Eisernen Vorhangs. Die Gegenwart des Romans spielt damit in einer Zeit, in der die Geschichte, die eigentlich erzählt wird, zu einem Ende kommt. Die erinnerte Zeit ist die, in der das Städtchen Dunkelblum im Herzen der ehemaligen KuK-Monarchie zum Schauplatz des ausbleibenden Endsiegs des Dritten Reichs wird und in die Randständigkeit einer Provinzstadt an der Grenze zum Ostblock verschwindet. Dunkelblum ist eine aus zahlreichen tatsächlichen regionalen Vorbildern konstruierte Stadt (eine davon ist Rechnitz) und sie ist dunkelbraun durch all die Jahre hindurch, mal mehr mal weniger offensichtlich. Menasse entwirft ein soziales Wimmelbild (Wolfgang Raupach) und beschreibt die Ereignisse aus der stetig wechselnden Innenperspektive zahlreicher Personen. Die Geschehnisse werden wie durch ein Kaleidoskop, das immer wieder bewegt wird, betrachtet; die Wahrheit bleibt immer fragmentarisch. Das ist nicht leserfreundlich, aber genial (Der Verlag hat inzwischen auf seiner Internetseite ein Personenregister zum Buch veröffentlicht, weil ihm die Leser als Käufer ja doch am Herzen liegen). Ohne je ganz hinabzusteigen, wird der tiefste Abgrund der Dunkelblumer Stadtgeschichte, die Massenerschießung von mehr als 100 ungarisch-jüdischen Zwangsarbeitern in den letzten Kriegswirren, erzählerisch spiralförmig-pulsierend umkreist. Im Interview offenbart Menasse, dass die erfundenen Ortsnamen der Gegend jüdischen Familiennamen entsprechen und die Namen der Täter und Obernazis der Handlung die Ortsnamen von Massentötungen sind. 

Menasse schildert in Dunkelblum eine Gesellschaft, die den Zeitpunkt der Aufarbeitung ihrer nationalsozialistischen Verbrechen verpasst hat, weil Keine und Keiner sich traute, den Anfang zu machen, auch nicht die Opfer. Die zahllosen Austriazismen der gebürtigen Österreicherin machen das Buch in ihrer vermeintlichen Gemütlichkeit scheinbar bekömmlicher für deutsche Leser: Alles so wunderbar weit weg und endlich bekommen einmal die Österreicher ihren Teil ab, schließlich war die Wurzel allen Übles, der Hitler, ja von dort.  

Wenn wir uns da mal nicht selbst betrügen. In Burgdorf wissen wir einiges über die verfolgten Jüdinnen und Juden der Stadt. Aber über die Täter und Täterinnen?

(Judith Rohde)

80 Jahre Riga-Deportation

von Hamburg nach Riga deportierte Burgdorfer

„…nach dem Osten gebracht“ – 80 Jahre Riga-Deportation

Schon seit Februar 1940 gab es regional begrenzte und sporadische Transporte deutscher Jüdinnen und Juden „in den Osten“. Ab Oktober 1941 begann die systematische Deportation in Ghettos, Konzentrations- und Vernichtungslager in den Gebieten östlich der Reichsgrenzen flankiert von einem generellen Auswanderungsverbot für jüdische Menschen.

Am 06.12.1941 wurden Elsa Cohn geb. Rose, ihr Mann Julius und ihr Sohn Arnold sowie Rosalie Cohn geb. Lindenbaum und ihr Mann Hermann von Hamburg aus nach Riga deportiert (oberes Bild). 

Am 15. 12. 1941 wurden Margarethe Cohn, ihre Tochter Hildegard, Georg Jacobsohn, eine Frau Rosalie geb. Behr (nicht abgebildet), sein Sohn Alfred und dessen Frau Eva Johanna geb. Stern, Margarete Kaufmann geb. Löwenstein und ihr Mann Arthur (nicht abgebildet) sowie Bertha Goldschmidt geb. Fleischhacker von Hannover aus nach Riga deportiert (unteres Bild).

Das ZeitZentrum Zivilcourage Hannover erinnert ab dem 06.12.2021 an 80 der 1001 an diesem Tag verschleppten Menschen auf: 

  • Twitter @das_z_hannover
  • Instagram das_z_hannover
  • Facebook ZeitZentrum Zivilcourage
  • Online www.hannover.de/das-z

Weitere Veranstaltungen und Aktionen unter www.hannover.de/das-z

von Hannover nach Riga deportierte Burgdorfer

Heimat und Exil – Verfolgung und Vernichtung: Veranstaltungen des Arbeitskreis Gedenkweg 9. November

Heimat und Exil – Verfolgung und Vernichtung: Veranstaltungen des Arbeitskreis Gedenkweg 9. November

Emil Cohn Stadtarchiv Burgdorf

Vor 80 Jahren, am 23. Oktober 1941, erließ die nationalsozialistische Regierung einen endgültigen Ausreisestopp, nachdem das Regime zuvor zwischen Forcierung und Behinderung der Ausreise jüdischer Menschen aus Nazi-Deutschland hin- und herschwankte. Der Arbeitskreis Gedenkweg 9. November erinnert am 11.11.21 um 17 Uhr im Ratssaal des Burgdorfer Schlosses mit einer Gedenkveranstaltung an die aus Burgdorf und Deutschland vertriebenen Mitglieder der Familie Emil Cohn, für die am Tag darauf Stolpersteine verlegt werden. Die Veranstaltung im Ratssaal zeigt gleichzeitig Verbindungslinien zu heutigen Flucht- und Ankommenserfahrungen auf, ohne Schicksale und historische Situationen gleichzusetzen. Neben Emil Cohn in Selbstzeugnissen werden deshalb auch Frau Parivash Ashadi aus Afghanistan und Herr Yahyar Alshar aus Syrien zu Wort kommen. Die Veranstaltung findet unter 2G-Coronaregeln (Geimpfte und Genesene) statt. Anmeldung bis zum 8. November unter info@juedische-geschichte-burgdorf.info oder Tel. 01577-1119421. Einlass zur Veranstaltung ist ab 16:15, damit Abstands- und Kontrollregeln eingehalten werden können. Wer nicht persönlich teilnehmen kann, kann unter derselben Mail-Adresse den link für den Live-Stream erfragen.

Am 12.11.21 werden außerdem ab 11:00 neue Stolpersteine in der Gartenstraße 44 und Wallgartenstraße 38 durch Gunter Demnig selbst verlegt. Diese Veranstaltung ist öffentlich unter den Coronaregeln für Freiluftveranstaltungen. Sie wird von Schülerinnen und Schülern der Rudolf-Bembenneck-Gesamtschule und des Gymnasiums mitgestaltet.

Der Gedenkweg am 9. November fällt wegen der zahlreichen Veranstaltungen im Umfeld aus. Zu diesen Veranstaltungen gehört auch, dass das Mitglied im Arbeitskreis Gedenkweg 9. November, Dr. Tobias Teuber, am 7.11.21 um 10:00 den Predigtimpuls in einfach.Gottesdienst.feiern der St. Paulus-Kirchengemeinde gestaltet.

We Refugees

We Refugees

Zufluchtsländer 1941

„Vor allem mögen wir es nicht, wenn man uns ›Flüchtlinge‹ nennt.“ Mit diesem Satz beginnt Hannah Arendts Aufsatz „We refugees“, der 1943 erschien. Im Klappentext der Reclam-Ausgabe der deutschen Übersetzung, schreibt der Verlag 2016: „[Der Aufsatz] zeigt nun heute seine eigentliche Sprengkraft: Die Frage, ob Staaten überhaupt noch in der Lage sind, Flüchtlings-Probleme zu bewältigen, da die Nationalsozialisten die Idee des schützenden Nationalstaates demontiert haben, verneint Arendt mit Nachdruck.“ Und Thomas Meyer erläutert in seinem Essay zu Arendts Aufsatz in dieser Ausgabe: „Die Flüchtlingsfrage ist universell geworden. Sie erfordert eine Überprüfung des Selbstverständnisses von Staaten, das heißt: von der Vorstellung eines in Staatsgrenzen lebenden Staatsvolkes, dessen Grenzen durch den Staat garantiert werden.“

Das digitale Archiv  https://we-refugees-archive.org/ vereint Zeugnisse historischer und gegenwärtiger Flucht- und Ankommenserfahrungen, ohne sie gleichzusetzen, aber um die Verbindungslinien aufzuzeigen und Arendts Aufsatz weiterzudenken. Die Veranstaltungen des Arbeitskreis Gedenkweg 9. November im November 2021 verorten diesen Ansatz im Lokalen, in dem sie das Vertreibungsschicksal der Familie Emil Cohn aus Burgdorf und Deutschland mit den Erfahrungen gegenwärtiger Geflüchteter nach Deutschland und Burgdorf verbinden.

Wallgartenstraße 38

Wallgartenstraße 38

Walter, Lotte, Gertrud, Berta Cohn und Heinz
Emil, Nathan Carl, Julius und Hermann Cohn

Emil Cohn, Berta Cohn geb. Cohn, Walter Cohn, Lotte Cohn, Heinz Cohn, Werner Cohn, Rudolf Cohn

Emil Cohn, geb. am 28.12.1885, hatte mit seiner Frau Berta geb. Cohn (geb. 20.07.1884) aus Duderstadt sieben Kinder. Eines der Kinder starb 1920 schon am vierten Lebenstag. Die anderen sind Walter (geb. 11.01.1911), Gertrud (geb. 26.02.1913), Lotte (geb. 20.01.1914), Heinz (geb. 25.05.1915 in Blomberg/ Lippe), Werner (geb. 27.10.1922) und Rudolf (geb. 21.03.1926). 

Emil selbst war der jüngste der vier Söhne von Schlachtermeister David Cohn und seiner ersten Frau Sarah geb. Meyer. Die Familie lebte in der Feldstraße 7 bis Vater David 1909 in der Gartenstraße 9 eine großes Wohn- und Geschäftshaus errichtete.

Im September 1910 legte Emil seine Schlachtermeisterprüfung in Celle ab und war bis 1914 zusammen mit seinem Bruder Hermann in dem vom Vater David übertragenen Geschäft in der Gartenstraße 9 tätig. Nach dem er für seine Schlachterei in Blomberg (Kreis Lippe) Konkurs anmelden musste, ließ sich Emil nach Kriegsende 1918 wieder in Burgdorf als Fleischer nieder und betrieb Geschäfte an verschiedenen Orten in der Stadt, zuletzt in der Wallgartenstraße 38. Im Sommer 1929 musste er den Betrieb dort aus wirtschaftlichen Gründen aufgeben, das Grundstück wurde an den Pferdehändler Georg Wöhler verkauft und Emil zog mit der Familie nach Hannover. Er arbeitete aber noch bis 1930 in Burgdorf wieder im Betrieb seines Bruders Hermann, ab dann bis 1935 im En-gros-Schlachtbetrieb seines Sohnes Walter in Hannover und zum Schluss im Straßenbau und in der Landwirtschaft. 

 

Am 20. oder 22. Januar 1941 konnte Emil Cohn mit seiner Frau und den vier Söhnen nach Argentinien ausreisen, nachdem verschiedene vorausgegangen Anläufe zur Auswanderung gescheitert waren. Ihr Schiff, die „Cabo de Buena Esperanza – Kap der guten Hoffnung“ erreichte Argentinien am 3. Mai 1941. Jeder Person war es erlaubt nur 50 kg Handgepäck und 50 kg Frachtgut aufzugeben. Der Obergerichtsvollzieher, der das Gepäck vor der Abfahrt kontrollierte, konstatierte: „Ich habe mir die gesamten Umzugsgüter genau angesehen. Es handelt sich hier um einfache Leute, die nichts Besonderes mitnehmen. Wertvolle Objekte sind nicht darunter, alles einfache Kleidung und Wäsche“. Die Ausreise zehrte Emils verbliebenes Vermögen vollständig auf und wurde zusätzlich von der Reichsvereinigung der Juden und der Jewish Colonization Association in Buenos Aires mitfinanziert. Diese Organisation verpachtete Land zur Bewirtschaftung an Immigranten. Bei seinem Besuch 1979 in der alten Heimat berichtete Sohn Walter, dass der Anfang in Argentinien äußerst entbehrungsreich gewesen sei. Das ihnen zur landwirtschaftlichen Nutzung zur Verfügung gestellte Areal in der Provinz Santa Fe bestand aus Ödland, das erst noch aus eigener Kraft kultiviert werden musste. Emil mit seinen 56 Jahren war den Strapazen dieser Arbeit in dem ungewohnten Klima nicht lange gewachsen und ab 1951 auf die Unterstützung seines Sohnes Rudolf angewiesen. 

Walter und Heinz fanden Arbeit in einer Fleischwarenfabrik in Mar del Plata südlich von Buenos Aires, zu deren Leiter Walter aufstieg und schließlich ihr Inhaber wurde. Später wurde Rudolf sein Partner und die Brüder betrieben das Geschäft gemeinsam. 

Emil und Bertas Tochter Lotte konnte im März 1939 nach Brighton, England, emigrieren, wo sie wie so viele andere Immigrantinnen als Dienstmädchen in einer jüdischen Familie arbeitete. Ihre Cousine Senta schrieb 1945 an Selma geb. Cohn und Friedel Hermes: „Lotti hat den Krieg gut überstanden und sich ein kleines Mädchen zugelegt, welches ungefähr vier Jahre alt ist.“ Mit ihrer Tochter Greta und ihrem aus Wien stammenden Mann zog sie im April 1953 weiter nach Toronto, Kanada, „auf der Suche nach einem besseren Leben. […] Und, wir haben in der Tat ein besseres Leben gehabt, ein viel besseres“, schrieb Greta 2006 an Rudolf Bembenneck.

Gertrud de Vries geb. Cohn, Adolph de Vries, Rita Ilse de Vries

Gertrud Cohn wurde am 26. Februar 1913 als Tochter von Schlachtermeister Emil Cohn und seiner Frau Berta in Burgdorf geboren.

Schon im Oktober 1933 emigrierte Gertrud nach Amsterdam und arbeitete dort als Haushaltshilfe. Bis 1939 war die Einreise in die Niederlande noch ohne Visum möglich. Aber ab 1935 wurde die Beschäftigung von Ausländern genehmigungspflichtig und nur erlaubt, wenn kein Niederländer für die freie Stelle zur Verfügung stand. Gertruds Schwester Lotte hatte sie dort Mitte der 1930iger Jahre für etwa 1 Jahr besucht, bevor sie selbst im März 1939 nach England ging. Lotte erzählte ihrer Tochter Greta später, dass Gertrud sehr gern in Holland gelebt hätte und deshalb nicht rechtzeitig von dort fortgegangen sei.

 Die große Zahl der ankommenden Immigranten aus Nazi-Deutschland nach 1933 und besonders nach 1938 wurde zur Weiterreise in andere Länder gedrängt. Die ortsansässige jüdische Gemeinschaft in den Niederlanden wurde mit der Betreuung der Flüchtlinge beauftragt, wobei der Staat Wert darauflegte, dass ihm durch die Flüchtlinge keine finanziellen Belastungen entstanden. Schon ab 1939 wurden Flüchtlinge in einem, unter jüdischer Verwaltung stehenden Lager, Westerbork, interniert.

Im Mai 1940 marschierten deutsche Truppen in den NL ein. Die Nationalsozialisten verschärften nach und nach ihr Vorgehen gegen die jüdische Bevölkerung unter Ausnutzung des sehr gut organisierten niederländischen Melderegisters.

Am 3. Dezember 1941 heiratete Gertrud Adolph de Vries, geboren am 2. Juni 1904. Die gemeinsame Tochter Rita Ilse kam am 11. Oktober 1942 zur Welt. Schon im Sommer desselben Jahres hatten die ersten Deportationszüge die NL verlassen. 

Berta und Emil Cohn mit Enkel- tochter Adela auf der Farm in Monigotes
Lotte Cohn in London 1945
Gertud Cohn in Holland in den 1930igern

Die kleine Familie lebte zuletzt unter beengten Verhältnissen zusammen mit den ebenfalls aus Deutschland emigrierten Mitgliedern der Familie Polak in der Dongestraat 1 I im Süden Amsterdams. Adolph musste sich als Lumpensortierer verdingen, da er nicht mehr in seinem alten Beruf (welchem?) arbeiten durfte/konnte. 

Es sind zwei Briefe erhalten, die Gertrud aus Amsterdam an ihre Eltern Emil und Berta schrieb, die mit ihren vier Söhnen im Januar 1941 nach Argentinien hatten emigrieren können. Im Brief vom 7. Oktober 1942 freute sich Gertrud auf die baldige Geburt ihres Kindes. Im Vordergrund stand jedoch der dringende Wunsch an die Eltern, ein Visum für die Ausreise nach Argentinien zu besorgen: „Wir wünschen uns nur eins, so schnell wie möglich auch nachzukommen. Besorgt uns so schnell wie möglich dringend ein Visum. […] lasst auch bitte Eurerseits nichts unversucht und lasst bitte keine Mühe für uns zu viel sein. Wie brennend wichtig ein Visum für uns ist und was für uns davon abhängt könnt ihr euch wohl denken.“ Einen Monat später berichtete sie von Rita Ilses glücklicher Geburt und dass sie lange schwarze Haare hätte, in die die Schwestern im Krankenhaus schon ein rosa Schleifchen gebunden hätten.

In das Elternglück mischten sich die Sorge um die Zukunft, Berichte über die Verwandten, die in Riga umgekommen sind, über Inges Unfalltod in London und wieder die dringende Bitte um ein Visum oder ein vergleichbares Empfehlungsschreiben: „Ihr könnt euch ja vorstellen, wie viel uns daran liegt, gedeckt zu sein. Denn dann könnten wir vielleicht hierbleiben.“

Am 1. April 1943 wurde die Familie im Konzentrationslager Vught interniert. Der letzte erhaltene Hilferuf ist eine Karte des niederländischen Roten Kreuzes vom 18. Mai 1943 aus dem Lager Vught: „DRINGENDST BRAUCHEN VISUM. ADOLPH. GERTRUD UND UNSERE RITA ILSE (GEB. 11.10.1942). ALLE[N] GLÜCKLICH GESUND. ADRESSE. LAGER VUGHT. HOLLAND. VIELE GRÜSSE. GERTRUD. RITA UND ADOLPH DE VRIES.“

Im Juli wurde die kleine Familie nach Westerbork und von da aus weiter nach Sobibor deportiert. Am Tag ihrer Ankunft dort, am 23. Juli 1943, wurden alle drei ermordet. Der letzte Stempel auf der umherirrenden Karte mit dem Hilferuf der Familie de Vries aus Vught stammt vom 5. April 1944. Da war die kleine Familie bereits fast ein Jahr tot.

deVries Rot Kreuz-Karte 18.05.1943

Die “T4” Sonderaktion

Die “T4” Sonderaktion von Juni/August 1940 bis Februar/Mai 1941 zur Ermordung jüdischer Patientinnen und Patienten in Heil- und Pflegeanstalten

Im März oder April 1940 wurde in der Berliner Zentrale des nationalsozialistischen Euthanasie-Projekts zur Beseitigung sogn. „unwerten“ Lebens in der Tiergartenstraße 4 eine Sonderaktion zur Ermordung jüdischer Anstaltspatienten und -patientinnen beschlossen. Im Rahmen dieser Aktion wurden jüdische Patienten und Patientinnen verschiedener Heilanstalten einer Region in Sammelstellen konzentriert. Für die Provinz Hannover, zu der auch die Neuerkeröder Anstalten unter evangelischer Trägerschaft gehörten, war die Heil- und Pflegeanstalt Wunstorf die entsprechende Sammelstelle. Nach einem Aufenthalt von wenigen Tagen wurden die Patienten und Patientinnen mit Güterzugwaggons in die euphemistisch als “Landes-Pflegeanstalt Brandenburg an der Havel“ bezeichnete Tötungsanstalt verbracht. Dort wurden die Menschen noch am Tag ihrer Ankunft in als Duschen getarnten Gaskammern mit Kohlenmonoxid getötet und anschließend vor Ort in zwei transportablen Öfen der Berliner Firma Kori verbrannt. Die „T4“-Zentrale in Berlin richtete in der Tötungsanstalt ein eigenes Standesamt ein und stellte Monate später fingierte Todeserklärungen aus, die überdies angeblich von einer Pflegeeinrichtung in Cholm im Generalgouvernement bei Lublin versandt wurden. Nicht nur wurden den Leichen vor der Verbrennung etwaige Goldzähne entfernt, auch die angeblichen Unterbringungskosten in Cholm bis zum fingierten späteren Tod der Patienten und Patientinnen dort wurde der Reichsvereinigung der Juden in Deutschland, die als Trägerin der Wohlfahrtpflege dafür zuständig war, in Rechnung gestellt. Unschwer ist zu erkennen, dass die „T4“-Sonderaktion der Auftakt, die Blaupause und der Probelauf zur Vernichtung der europäischen Juden und Jüdinnen in den Vernichtungslagern des Ostens war. Mehr als 90 Angestellte der „T4“ wurden später auf Grund ihrer einschlägigen Erfahrungen dafür abgeordnet, darunter die Kommandanten der Vernichtungslager Belzec, Sobibor und Treblinka. 

Zum Weiterlesen:

https://www.gedenkort-t4.eu/de/historische-orte/qvp1b-provinzial-heil-und-pflegeanstalt-wunstorf-krh-psychiatrie-wunstorf#schnellueberblick 

https://www.brandenburg-euthanasie-sbg.de/geschichte/1940-t4-mordstaette-brandenburg/