© Arbeitskreis Gedenkweg 9. November (2021)
Emil Cohn, geb. am 28.12.1885, hatte mit seiner Frau Berta geb. Cohn (geb. 20.07.1884) aus Duderstadt sieben Kinder. Eines der Kinder starb 1920 schon am vierten Lebenstag. Die anderen sind Walter (geb. 11.01.1911), Gertrud (geb. 26.02.1913), Lotte (geb. 20.01.1914), Heinz (geb. 25.05.1915 in Blomberg/ Lippe), Werner (geb. 27.10.1922) und Rudolf (geb. 21.03.1926).
Emil selbst war der jüngste der vier Söhne von Schlachtermeister David Cohn und seiner ersten Frau Sarah geb. Meyer. Die Familie lebte in der Feldstraße 7 bis Vater David 1909 in der Gartenstraße 9 eine großes Wohn- und Geschäftshaus errichtete.
Im September 1910 legte Emil seine Schlachtermeisterprüfung in Celle ab und war bis 1914 zusammen mit seinem Bruder Hermann in dem vom Vater David übertragenen Geschäft in der Gartenstraße 9 tätig. Nach dem er für seine Schlachterei in Blomberg (Kreis Lippe) Konkurs anmelden musste, ließ sich Emil nach Kriegsende 1918 wieder in Burgdorf als Fleischer nieder und betrieb Geschäfte an verschiedenen Orten in der Stadt, zuletzt in der Wallgartenstraße 38. Im Sommer 1929 musste er den Betrieb dort aus wirtschaftlichen Gründen aufgeben, das Grundstück wurde an den Pferdehändler Georg Wöhler verkauft und Emil zog mit der Familie nach Hannover. Er arbeitete aber noch bis 1930 in Burgdorf wieder im Betrieb seines Bruders Hermann, ab dann bis 1935 im En-gros-Schlachtbetrieb seines Sohnes Walter in Hannover und zum Schluss im Straßenbau und in der Landwirtschaft.
Am 20. oder 22. Januar 1941 konnte Emil Cohn mit seiner Frau und den vier Söhnen nach Argentinien ausreisen, nachdem verschiedene vorausgegangen Anläufe zur Auswanderung gescheitert waren. Ihr Schiff, die „Cabo de Buena Esperanza – Kap der guten Hoffnung“ erreichte Argentinien am 3. Mai 1941. Jeder Person war es erlaubt nur 50 kg Handgepäck und 50 kg Frachtgut aufzugeben. Der Obergerichtsvollzieher, der das Gepäck vor der Abfahrt kontrollierte, konstatierte: „Ich habe mir die gesamten Umzugsgüter genau angesehen. Es handelt sich hier um einfache Leute, die nichts Besonderes mitnehmen. Wertvolle Objekte sind nicht darunter, alles einfache Kleidung und Wäsche“. Die Ausreise zehrte Emils verbliebenes Vermögen vollständig auf und wurde zusätzlich von der Reichsvereinigung der Juden und der Jewish Colonization Association in Buenos Aires mitfinanziert. Diese Organisation verpachtete Land zur Bewirtschaftung an Immigranten. Bei seinem Besuch 1979 in der alten Heimat berichtete Sohn Walter, dass der Anfang in Argentinien äußerst entbehrungsreich gewesen sei. Das ihnen zur landwirtschaftlichen Nutzung zur Verfügung gestellte Areal in der Provinz Santa Fe bestand aus Ödland, das erst noch aus eigener Kraft kultiviert werden musste. Emil mit seinen 56 Jahren war den Strapazen dieser Arbeit in dem ungewohnten Klima nicht lange gewachsen und ab 1951 auf die Unterstützung seines Sohnes Rudolf angewiesen.
Walter und Heinz fanden Arbeit in einer Fleischwarenfabrik in Mar del Plata südlich von Buenos Aires, zu deren Leiter Walter aufstieg und schließlich ihr Inhaber wurde. Später wurde Rudolf sein Partner und die Brüder betrieben das Geschäft gemeinsam.
Emil und Bertas Tochter Lotte konnte im März 1939 nach Brighton, England, emigrieren, wo sie wie so viele andere Immigrantinnen als Dienstmädchen in einer jüdischen Familie arbeitete. Ihre Cousine Senta schrieb 1945 an Selma geb. Cohn und Friedel Hermes: „Lotti hat den Krieg gut überstanden und sich ein kleines Mädchen zugelegt, welches ungefähr vier Jahre alt ist.“ Mit ihrer Tochter Greta und ihrem aus Wien stammenden Mann zog sie im April 1953 weiter nach Toronto, Kanada, „auf der Suche nach einem besseren Leben. […] Und, wir haben in der Tat ein besseres Leben gehabt, ein viel besseres“, schrieb Greta 2006 an Rudolf Bembenneck.
Gertrud Cohn wurde am 26. Februar 1913 als Tochter von Schlachtermeister Emil Cohn und seiner Frau Berta in Burgdorf geboren.
Schon im Oktober 1933 emigrierte Gertrud nach Amsterdam und arbeitete dort als Haushaltshilfe. Bis 1939 war die Einreise in die Niederlande noch ohne Visum möglich. Aber ab 1935 wurde die Beschäftigung von Ausländern genehmigungspflichtig und nur erlaubt, wenn kein Niederländer für die freie Stelle zur Verfügung stand. Gertruds Schwester Lotte hatte sie dort Mitte der 1930iger Jahre für etwa 1 Jahr besucht, bevor sie selbst im März 1939 nach England ging. Lotte erzählte ihrer Tochter Greta später, dass Gertrud sehr gern in Holland gelebt hätte und deshalb nicht rechtzeitig von dort fortgegangen sei.
Die große Zahl der ankommenden Immigranten aus Nazi-Deutschland nach 1933 und besonders nach 1938 wurde zur Weiterreise in andere Länder gedrängt. Die ortsansässige jüdische Gemeinschaft in den Niederlanden wurde mit der Betreuung der Flüchtlinge beauftragt, wobei der Staat Wert darauflegte, dass ihm durch die Flüchtlinge keine finanziellen Belastungen entstanden. Schon ab 1939 wurden Flüchtlinge in einem, unter jüdischer Verwaltung stehenden Lager, Westerbork, interniert.
Im Mai 1940 marschierten deutsche Truppen in den NL ein. Die Nationalsozialisten verschärften nach und nach ihr Vorgehen gegen die jüdische Bevölkerung unter Ausnutzung des sehr gut organisierten niederländischen Melderegisters.
Am 3. Dezember 1941 heiratete Gertrud Adolph de Vries, geboren am 2. Juni 1904. Die gemeinsame Tochter Rita Ilse kam am 11. Oktober 1942 zur Welt. Schon im Sommer desselben Jahres hatten die ersten Deportationszüge die NL verlassen.
Die kleine Familie lebte zuletzt unter beengten Verhältnissen zusammen mit den ebenfalls aus Deutschland emigrierten Mitgliedern der Familie Polak in der Dongestraat 1 I im Süden Amsterdams. Adolph musste sich als Lumpensortierer verdingen, da er nicht mehr in seinem alten Beruf (welchem?) arbeiten durfte/konnte.
Es sind zwei Briefe erhalten, die Gertrud aus Amsterdam an ihre Eltern Emil und Berta schrieb, die mit ihren vier Söhnen im Januar 1941 nach Argentinien hatten emigrieren können. Im Brief vom 7. Oktober 1942 freute sich Gertrud auf die baldige Geburt ihres Kindes. Im Vordergrund stand jedoch der dringende Wunsch an die Eltern, ein Visum für die Ausreise nach Argentinien zu besorgen: „Wir wünschen uns nur eins, so schnell wie möglich auch nachzukommen. Besorgt uns so schnell wie möglich dringend ein Visum. […] lasst auch bitte Eurerseits nichts unversucht und lasst bitte keine Mühe für uns zu viel sein. Wie brennend wichtig ein Visum für uns ist und was für uns davon abhängt könnt ihr euch wohl denken.“ Einen Monat später berichtete sie von Rita Ilses glücklicher Geburt und dass sie lange schwarze Haare hätte, in die die Schwestern im Krankenhaus schon ein rosa Schleifchen gebunden hätten.
In das Elternglück mischten sich die Sorge um die Zukunft, Berichte über die Verwandten, die in Riga umgekommen sind, über Inges Unfalltod in London und wieder die dringende Bitte um ein Visum oder ein vergleichbares Empfehlungsschreiben: „Ihr könnt euch ja vorstellen, wie viel uns daran liegt, gedeckt zu sein. Denn dann könnten wir vielleicht hierbleiben.“
Am 1. April 1943 wurde die Familie im Konzentrationslager Vught interniert. Der letzte erhaltene Hilferuf ist eine Karte des niederländischen Roten Kreuzes vom 18. Mai 1943 aus dem Lager Vught: „DRINGENDST BRAUCHEN VISUM. ADOLPH. GERTRUD UND UNSERE RITA ILSE (GEB. 11.10.1942). ALLE[N] GLÜCKLICH GESUND. ADRESSE. LAGER VUGHT. HOLLAND. VIELE GRÜSSE. GERTRUD. RITA UND ADOLPH DE VRIES.“
Im Juli wurde die kleine Familie nach Westerbork und von da aus weiter nach Sobibor deportiert. Am Tag ihrer Ankunft dort, am 23. Juli 1943, wurden alle drei ermordet. Der letzte Stempel auf der umherirrenden Karte mit dem Hilferuf der Familie de Vries aus Vught stammt vom 5. April 1944. Da war die kleine Familie bereits fast ein Jahr tot.
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