Lesen! Eva Manesse: Dunkelblum

Verlag: Kiepenheuer&Witsch

528 Seiten, 25 €

ISBN: 978-3-462-04790-5

Auch als e-book und bei Audible, 

eingelesen von der Autorin selbst

Das ist ein Buch, das man zwei Mal lesen muss. 1. Weil es gut geschrieben ist – große Sprachoper, nennt Denis Scheck es im „lesenswert“-Quartett des SWR. 2. Weil es eine spannend entwickelte Analyse eines nationalsozialistischen Täterkollektives ist. 3. Weil man beim ersten Lesen den Überblick verliert – und das ist vermutlich gewollt. Doch der Reihe nach.

In ihrem aktuellen Roman beschreibt Eva Menasse den Mikrokosmos einer österreichischen Kleinstadt im Burgenland an der Grenze zu Ungarn zur Zeit des Falls des Eisernen Vorhangs. Die Gegenwart des Romans spielt damit in einer Zeit, in der die Geschichte, die eigentlich erzählt wird, zu einem Ende kommt. Die erinnerte Zeit ist die, in der das Städtchen Dunkelblum im Herzen der ehemaligen KuK-Monarchie zum Schauplatz des ausbleibenden Endsiegs des Dritten Reichs wird und in die Randständigkeit einer Provinzstadt an der Grenze zum Ostblock verschwindet. Dunkelblum ist eine aus zahlreichen tatsächlichen regionalen Vorbildern konstruierte Stadt (eine davon ist Rechnitz) und sie ist dunkelbraun durch all die Jahre hindurch, mal mehr mal weniger offensichtlich. Menasse entwirft ein soziales Wimmelbild (Wolfgang Raupach) und beschreibt die Ereignisse aus der stetig wechselnden Innenperspektive zahlreicher Personen. Die Geschehnisse werden wie durch ein Kaleidoskop, das immer wieder bewegt wird, betrachtet; die Wahrheit bleibt immer fragmentarisch. Das ist nicht leserfreundlich, aber genial (Der Verlag hat inzwischen auf seiner Internetseite ein Personenregister zum Buch veröffentlicht, weil ihm die Leser als Käufer ja doch am Herzen liegen). Ohne je ganz hinabzusteigen, wird der tiefste Abgrund der Dunkelblumer Stadtgeschichte, die Massenerschießung von mehr als 100 ungarisch-jüdischen Zwangsarbeitern in den letzten Kriegswirren, erzählerisch spiralförmig-pulsierend umkreist. Im Interview offenbart Menasse, dass die erfundenen Ortsnamen der Gegend jüdischen Familiennamen entsprechen und die Namen der Täter und Obernazis der Handlung die Ortsnamen von Massentötungen sind. 

Menasse schildert in Dunkelblum eine Gesellschaft, die den Zeitpunkt der Aufarbeitung ihrer nationalsozialistischen Verbrechen verpasst hat, weil Keine und Keiner sich traute, den Anfang zu machen, auch nicht die Opfer. Die zahllosen Austriazismen der gebürtigen Österreicherin machen das Buch in ihrer vermeintlichen Gemütlichkeit scheinbar bekömmlicher für deutsche Leser: Alles so wunderbar weit weg und endlich bekommen einmal die Österreicher ihren Teil ab, schließlich war die Wurzel allen Übles, der Hitler, ja von dort.  

Wenn wir uns da mal nicht selbst betrügen. In Burgdorf wissen wir einiges über die verfolgten Jüdinnen und Juden der Stadt. Aber über die Täter und Täterinnen?

(Judith Rohde)